Lebende Zellen sind verdammt empfindlich. Sie zu studieren heißt allzu oft, sie zu zerstören. Das kommt der Forschung nicht gerade entgegen. Das Chip-Minilabor von GÜNTER ROLF FUHR ist eine sanfte Hilfe.
Ein flacher Chip, drei Zentimeter lang, drei Zentimeter breit, so groß wie eine Briefmarke, liegt auf dem Schreibtisch von Professor Dr. Günter Rolf Fuhr. Der 51-jährige Direktor des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik in Sankt Ingbert im Saarland schiebt den Chip vorsichtig über die Tischplatte. „Nur wer gutes Werkzeug hat, kann gut arbeiten“, sagt er und schnippt den Chip an, bis dieser sich wie ein Kreisel dreht. „Nur wer einen guten Schraubenschlüssel hat, kann auch besonders fest sitzende Schrauben lösen.“
Der Chip auf dem Schreibtisch von Günter Fuhr ist solch ein Schraubenschlüssel – und viel mehr als das. Der Chip ist ein Minilabor, in dem sich Zellen untersuchen, bewegen, voneinander trennen und zu Gruppen zusammenfügen lassen. Vor drei Jahren erhielten Fuhr und sein Team von der Humboldt-Universität Berlin sowie Mitarbeiter der Firma Evotec in Hamburg für die Erfindung des Chips den Philip Morris Forschungspreis. Denn Fuhrs Werkzeug ist ein Schraubenschlüssel, der eine Schraube löst, ohne sie zu berühren.
„Wenn Sie Zellen bewegen und dabei ihre Oberflächen anfassen, dann verändern Sie die Zelle.“ Die Folgen sind Stress, eine Immunreaktion der Zelle, eine Neuorga-nisation der inneren Zellbausteine, die Zerstörung der Zellmembran. Zelltod. All das passiert in Fuhrs Chip-Minilabor nicht. Denn die Zellen werden durch Hochfrequenz-Funkwellen festgehalten, oder sie werden durch dieselben Wellen bewegt, wie in einem unsichtbaren Käfig. „Im Chip sieht es aus wie auf einer Autobahn“, erklärt Fuhr. Dort strömen die Zellen durch ein System von Kapillaren,sie laufen durch Filter und an Weichen vorbei, an denen sie je nach Schaltung des elektrischen Feldes sortiert werden. Die Forscher können die empfindlichen Dinger schweben lassen oder per Knopfdruck auf der Computer-tastatur punktgenau festhalten. Wie gesagt: Dieser fabrikartige Parcours kommt ohne Berührung aus.
Seit 2000 vermarktet die Hamburger Firma Evotec diese Entwicklung. Ein Einsatzgebiet ist die Stammzellenforschung. Im Herz eines Infarktpatienten zum Beispiel versucht man zurzeit, neues Muskelgewebe aufzubauen, in dem man dem Kranken Stammzellen spritzt. Stamm-zellen sind noch nicht spezialisierte Zellen. Im Herz eines kranken Patienten können sie sich zu neuem Herzmuskelgewebe entwickeln. Mit anderen Worten: Sie sind das perfekte Allzweck-Baumaterial im Körper.
Stammzellen finden sich u.a. im Knochenmark, im Gehirn und auch im Blut der Nabelschnur, doch nirgends in reiner Form. Nur eine von 10.000 bis zu einer Million Zellen ist eine Stammzelle. Und hier kommt Fuhrs Chip-Minilabor ins Spiel: Denn der Chip dient für diese Zellen als winzige Sortieranlage, so klein, dass die Bewegung der Zellen nur unter dem Mikroskop sichtbar ist.
Doch wie sicher ist das Verfahren? Werden die Zellen wirklich nicht verändert, wenn sie auf Hochfrequenzwellen durch die Kapillaren des Chips laufen? „Seit einem Jahr können wir diese Frage beantworten“, erklärt Professor Fuhr. Im Jahr 2003 entnahmen Wissenschaftler der Firmen Evotec und Artemis Labormäusen embryonale Stammzellen, trennten Sie dann voneinander und ließen sie anschließend durch den Chip laufen. Und pflanzten sie schließlich in einen Mäuse-Embryo im Frühstadium. Aus den Zellen entstanden gesunde Mäuse. „Ich habe bei diesem Experiment etwas gezittert. Wissen Sie, bei der Embryo-Entstehung läuft die gesamte Biologie ab, ein hochsensibler Prozess. Durch die gesunden Mäuse konnten wir nachweisen, wie sanft unsere Technologie arbeitet. Das ist für uns natürlich ein Meilenstein“, sagt Günter Fuhr und atmet auf.
Und die Vermarktung läuft. Seit der Verleihung des Philip Morris Fordschungspreis klingelt regelmäßig das Telefon, das neben dem kleinen Chip auf Fuhrs Schreibtisch steht. Viele Kunden haben erst durch den Forschungs-preis von der Existenz einer so sanften Untersuchungs-Methode erfahren. Kunden aus der ganzen Welt rufen an, viele Grundlagenforschungsinstitute sind dabei und natürlich zahlreiche Stammzellenforscher. Sie alle kaufen den Chip samt Steuerung und Computerprogrammen.
„Es herrscht Goldgräberstimmung in der Biotechnologie- und Wissenschaftsszene, in der ich arbeite. Die Nutzung humaner und tierischer Zellen und auch der Stammzellen aus unserem Körper – das ist der Markt der Zukunft. Auch wenn noch eine Menge Forschung betrieben werden muss, um zu zeigen, wo die Chancen und Risiken liegen. Wir brauchen für die Öffentlichkeit umfassende Informationen.“ Und für die Forscher die richtige Technologie. „Nur wer gutes Werkzeug hat, kann gut arbeiten.“
Prof. Dr. Günther Fuhr und sein Team wurden 2002 für die Entwicklung einer nicht invasiven Beobachtungs- und Sortiermethode von Zellen ausgezeichnet.