2004

Wenn Erfahrung explodiert

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frühwald
Ohne die Kunst wäre die Wissenschaft ohne Gesicht. Und ohne die Wissenschaft hätte die Kunst keine Visionen.

Die Beschleunigung der Erfahrung und inzwischen auch der Lebensvorgänge selbst ist ohne Zweifel das zentrale Phänomen der Moderne. Nur knapp ein Menschenleben ist zwischen den ersten Flugversuchen und jenem Augenblick vergangen, da der Mensch seinen Lebensraum verließ, da sich seine Gedanken und seine Phantasie in Räumen einnisteten, in denen jener „Sternenstaub“ entstanden ist, dem alle schweren Elemente auf der Erde zuzurechnen sind, jedes Kohlenstoff- und jedes Sauerstoffatom in unserem Körper.

„Wir bestehen“, sagt Gerhard Börner, „buchstäblich aus Sternenstaub. Wir sind Sterne einer zweiten Generation…“ Im gleichen Maße aber, in dem das Wissen des Menschen die unendlichen Weiten des Universums erschlossen hat, hat es auch das Innere des Lebens erkundet. Das in Jahrmillionen entstandene Erbgut des Menschen liegt nun erstmals in der Geschichte dem Zugriff des Menschen offen. Der Nanobereich ist so zur Arbeitsebene der Biotechnologen, der Materialwissenschaftler, der Biophysiker, der Biochemiker und vieler anderer Wissenschaften geworden. Bei Größenordnungen von 9-10 Metern wird eine Welt geöffnet, die in ihren Dimensionen denen des Weltalls gleicht. Zu einer zweiten Evolution könnte diese Bewegung dort geraten, wo der Eingriff des Menschen in das Erbgut des Lebens eine Evolutionsbeschleunigung bewirkt. Sie würde das menschliche Erbgut in Zeiträumen verändern, die sich den bekannten Anpassungsgesetzen entziehen. Eine solche Beschleunigung wäre dann keine bloße Fortsetzung der modernen Erfahrungs-Akzeleration, sondern eine qualitativ neue Entwicklung. Sie führte zu Mutationen, welche sich auch die Science-Fiction Literatur heute noch kaum vorzustellen vermag. Die Pionierleistung einer Verbindung von Nervenzellen (der Ratte oder der Schnecke) mit Elektronenchips zum Beispiel weist mittelfristig auf die Entwicklung einer Prothetik des zentralen Nervensystems und damit auf Heilungsmöglichkeiten für Krankheiten, die als unheilbar gelten; in ihrer Tendenz aber verweist diese Forschung auch auf die (freilich noch in weiter Ferne liegende) Möglichkeit der Entwicklung intelligenter Computer, die, verbunden mit ihresgleichen, eben Mutationen in der Menschenwelt erzeugen könnten, eine funkelnagelneue Spezies, die kaum noch verstehen würde, „worum unseresgleichen damals geweint hat“ (Durs Grünbein).

Der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften ist prozeßhaft und daher von Einzelnen nicht zu steuern. Wenn die Wogen dieses Fortschritts Erinnerung und Gedächtnis unter sich begraben, sind Kunst und Literatur, als das immer abzurufende, immer präsente, kollektive Gedächtnis der Menschheit, das widerständige Gegengewicht zu dieser Bewegung. Der in sich erinnerungslose Fortschritt ist völlig auf ein solches Gegengewicht angewiesen, damit ihm der Bezug zum Menschen, der alle in Ziel und Weg der Wissensentwicklung sein kann, nicht verlorengeht. Im Verlauf der Wissenschafts- und der Zivilisationsgeschichte hat sich immer wieder ein „Grenzwissen“ eingestellt, welches fordert, Fortschritt und Gedächtnis in jene Balance zu bringen, in der menschliches Maß, also Humanität, überhaupt erst möglich ist. „Es gibt zwei Umstände“, meinte Leszek Kolakowski, „deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollten: 1. hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; 2. wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universal würde, werden wir uns wieder in den Höhlen befinden.“

Im Unterschied zu den Naturwissenschaften also, die auf das Spezielle gerichtet sein müssen, um ihren Auftrag zu erfüllen, und daher Technik erzeugen, versuchen Kunst und Literatur noch immer ein Ganzes zu beschreiben, auch wenn wir die Welt als ganze längst nicht mehr denken können. So fördert die auf Fortschritt gerichtete Wissenschaft den Zerfall der Welt- und Menschenbilder in gleichem Maße, in dem Kunst und Literatur versuchen, solche Bilder herzustellen.

Der Abstand zwischen den von der menschlichen Rationalität geschaffenen Möglichkeiten der Weltveränderung, des Heilens ebenso wie des Zerstörens, und dem Bewußtsein solcher Möglichkeiten wird umso größer, je sichtbarer die explosionsartige Ausdehnung aller Menschen- und Welterfahrungen der Begreifbarkeit hinderlich ist. Die durch Naturwissenschaft gewonnnen Erkenntnisse haben sich ins Nichtanschauliche, ins Formelhaft Abstrakte hinein entwickelt. Daher ist die „lebendige Berührung mit dem Ganzen“, wie sie die Sehnsüchte des Menschen seit Jahrtausenden erhoffen, an jenen Bruchzonen angesiedelt, an denen Kunst, Literatur- und Religion entstehen. Diese Wertsysteme sind gleichsam seismische Instrumente, welche Verwerfungen und Beben in der hochindustrialisierten Welt und in der Mentalität ihrer Gesellschaften anzeigen.

Solange die wissenschaftliche Rationalität nicht mit Hilfe von Kunst und Literatur Wege in tiefere Bewußtseinsschichten des Menschen findet, solange Entdeckergeist und Erfinderfreude von der stummen Angst und dem lauten Entsetzen einer wachsenden Zahl wissenschaftsskeptischer Menschen begleitet werden, solange kann die Wissenschaft sich nicht in der Freiheit entwickeln, die sie zu ihrer Entfaltung braucht.

Und umgekehrt: Solange Schriftsteller und Künstler ihre erste Aufgabe darin sehen, das Angstgedächtnis der Menschheit zu sein und den Untergang eigener Vorstellungswelten als den Untergang der Welt verkünden, wird der universale Anspruch des ästhetischen Denkens weiter an Geltung und Kraft verlieren. Es geht in allem wissenschaftlichem Tun um die komplexen Bedingungen des Lebens, die vielleicht nicht für die (abstrakte) Wissenschaft, wohl aber für Forscherinnen und Forscher so existieren, wie für alle anderen Menschen auch.

Wissenschaftliche und ästhetische Kultur miteinander ins Gespräch zu bringen, scheint mir eine Aufgabe von Gewicht.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frühwald war 4 Jahre Mitglied der Jury des Philip Morris Forschungspreises. Wolfgang Frühwald lehrt Literaturgeschichte in München, war von 1991 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft und ist Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. In diesem Jahr räumt Wolfgang Frühwald seinen Sitz in der Jury des Philip Morris Forschungspreises.

Wir bedanken uns von ganzem Herzen für seine Unterstützung und Mitarbeit.