2005

Forschendes Museum – offenes Labor

Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang M. Heckl
Die Wissensgesellschaft braucht neben Top-Forschern auch Top-Vermittler. Das Deutsche Museum in München hat seinen Platz gefunden, als offener, lebendiger Forschungsbetrieb. Ein Rolemodel für den Dialog zwischen Forschung und Gesellschaft.

DIE IDEE DES GRÜNDERS OSKAR VON MILLER
Mit der Gründung des Deutschen Museums vor gut 100 Jahren verfolgte Oskar von Miller die Idee, breite Schichten der Bevölkerung an die modernsten Entwicklungen der Naturwissenschaft und Technik heranzuführen, indem die Meisterwerke auf diesen Gebieten gesammelt, ausgestellt und erforscht werden sollten. Gegen viele Widerstände gelang es ihm, eine Tradition zu begründen, die uns heute das naturwissenschaftlich-technische Gedächtnis des 20. Jahrhunderts in Form von einzigartigen Exponaten zur Verfügung stellt. Doch Oskar von Miller hatte mehr im Sinn. Durch die damals außerordentlich ungewöhnliche Idee, Exponate zum Bespielen in ein Museum aufzunehmen, damit der Besucher durch eigenes Experimentieren in der Lage ist, die Phänomene aus eigener Erfahrung zu begreifen, begründete er die mittlerweile überall kopierte Idee des Science-Centers, wie sie heute in vielen anderen Museen zu finden ist.

TRADITION UND MODERNE
Dieser Leitidee der Kommunikation von Wissenschaft in die Gesellschaft hinein fühlen wir uns heute umso mehr verpflichtet, als die Bedeutung der ersten, der wissenschaftlich-technischen Kultur, im modernen Leben noch zugenommen hat. So wie die vor 100 Jahren modernsten Exponate aus den Bereichen der Automobil-, der Eisenbahn-, der Bergwerkstechnik oder der aufkommenden Rundfunk- und Fernsehtechnik heute zu historische Zeugnissen der Technikgeschichte geworden sind, anhand derer sich die Ideen- und Erfindungsgeschichte der modernen Gesellschaft studieren lässt, so sind heute die Nano-, die Bio- und die Gentechnologie ein Anliegen im Museum. Die Beteiligung des Bürgers an den komplizierten politischen Entscheidungsprozessen erlaubt sich erst, wenn die Grundlagen für ein Verständnis der komplexen Zusammenhänge durch Ausstellungen und Bildungsveranstaltungen gelegt sind. Indem das Museum eine neutrale Plattform an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Bürger im Prozess des Dialogs in der Gesellschaft einnimmt, erfüllt es eine nicht zu unterschätzende Aufgabe in der Demokratie.

HUMBOLDT NEU DENKEN
Der Erfolg der modernen Wissenschaften in den letzten Jahrhunderten war nur durch die Differenzierung der Diszilplinen möglich. Wäre die Physik heute noch ein Teilgebiet der Philosophie, so wären die Revolution der Quantenmechanik, Einsteins Universum oder die moderne Halbleitertechnologie und die Informationsgesellschaft nicht möglich gewesen. Humboldts Ideen – die zur Emanzipation von der Einengung aller akademischen Disziplinen auf die Bereiche körperliche, seelische und staatliche Gesundheit, mithin Medizin, Theologie und Juristerei, geführt haben – sollten heute wieder stärkere Beachtung finden. Eine Gesamtsicht der Dinge, bei allem notwendigen Spezialistentum, ist heute wieder nötig, denn gerade die größten Fortschritte entstehen an den Rändern, an den Grenzen zwischen den einzelnen Fachdisziplinen; sie entstehen fachübergreifend. Das heute so moderne Akronym NBIC, das für die englischen Begriffe Nanobio, Informationswissenschaften und die Konvergenz dieser Disziplinen steht, gibt die Richtung für die gewaltigen Veränderungen an, die unserer Gesellschaft durch Forschung, Entdeckungen und Erfindungen bevorstehen. Gerade auch das moderne dialogische Museum ist geeignet, diese Entwicklungen in ihrer Verschiedenheit und Fülle unter seinem Dach zusammenhängend darzustellen und Hilfe bei der Bewertung zu geben. Das Deutsche Museum versteht sich als Ort, wo naturwissenschaftlich-technische Entwicklungen in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension dargestellt werden. Indem es die wechselseitige Komplementarität zwischen beiden Bereichen ernst nimmt, stellt es eine Brückenfunktion zur Geisteswissenschaft dar.

KOMPLEMENTARITÄT VERKÖRPERN
Obwohl von Max Planck der Satz stammt, dass wirklich das ist, was sich messen lässt, kann man die gesamte Wahrheit nicht darauf beschränken. Die durch C.P. Snow ausgelöste Debatte von den zwei Kulturen, der Naturwissenschaft, die die Zukunft gebucht hat, und der Geisteswissenschaft, die rückwärts gewandt ist, findet im Museum in der Komplementarität von Tradition und Moderne ihre Auflösung. Was man aus der Geschichte lernen kann, ist die Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnis lebensnotwendig ist, um die Erdbevölkerung zu erhalten. Daher sollte die Gesellschaft die Wissenschaft wertschätzen, schon aus Eigeninteresse. Die Geisteswissenschaften sind dabei nicht auf die Rolle des Schmiermittels für die naturwissenschaftlich-technische Innovation einzuengen, wie so manchmal heute gefordert, sie sind als eigenständig-komplementär zu begreifen. Man muss nicht so weit gehen wie die Sozialwissenschaften, die jedes naturwissenschaftliche Faktum letztlich sozial konstruiert sehen. Ein Blick auf die Exponate des Museums zeigt aber ganz deutlich, dass die Entwicklungsgeschichte naturwissenschaftlich- technischer Entdeckungen immer auch eine gesellschaftliche und politische, mithin geisteswissenschaftliche Dimension hat.

Als Naturwissenschaftler und Verantwortlicher im Deutschen Museum heißt mein Plädoyer daher: Wir brauchen nicht den Gegensatz von Natur und Geisteswissenschaften, wir müssen die institutionellen Schnittstellen zum Beispiel in Form von Zentren stärken, die diese Komplementarität verkörpern. So, wie der weise Niels Bohr den Streit um den Gegensatz von Welle- und Teilcheneigenschaft von Licht durch die Komplementarität beider Sichtweisen je nach Experimentierbedingungen gelöst hat, könnten wir heute die beiden Kulturen durch die Bedingungen, unter denen sich die handelnden Personen treffen, komplementär gestalten.

Das Deutsche Museum ist eine Schnittstelle, eine ideale Plattform nicht nur für plattes Public Understanding of Science (PUS), sondern auch für reflektiertes Public Understanding of Research (PUR). In unserem gerade entstehenden Zentrum für neue Technologien (ZNT) wird es exemplarisch auch darum gehen: in der Verknüpfung von Natur- und Geisteswissenschaften den Erkenntnisprozess der modernen, transdisziplinär orientierten Laborwissenschaften zu analysieren, ihn in seiner Gesamtheit zu vermitteln und in diesem Sinne Humboldt neu zu denken. Das „offene Labor“ wird dazu dienen, den spannenden Prozess der Wissenschaft (und nicht nur das Ergebnis im Rahmen des Museums) zu thematisieren. Es wird in seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnisarbeit (mit dem Ausgangspunkt der experimentellen Datenaufnahme) gleichsam unter sozial- und geisteswissenschaftlicher Beobachtung stehen und wird dabei begleitet von Forschungsprojekten, die auf dieses Public Understandig of Research zielen. Damit soll das Deutsche Museum seinen Auftrag, ein Zentrum des Dialogs der Wissenschaft mit der Gesellschaft zu sein, auch in Zukunft meistern.

Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang M. Heckl ist Leiter des Deutschen Museums in München. Außerdem ist er Leiter des GeoBioCenter und des Centers for NanoScience an der LMU München, Sprecher des deutschen Kompetenzzentrums Nanoanalytik und Mitglied der Jury des Philip Morris Forschungspreises.