2006

Erkenntnisgewinne für ein neues Weltbewusstsein

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Müller
In 25 Jahren wurde der Forschungspreis der Philip Morris Stiftung zum bedeutendsten privaten Wissenschaftspreis Deutschlands.

Vor 25 Jahren wurde unser Forschungspreis erstmals verliehen, in einer Zeit, wo Teile einer Generation versuchten, in lilliputanische Welten zu flüchten, wo Technikfeindlichkeit zur lieben Mode zu werden drohte und die Grundlagen unserer Wettbewerbsfähigkeit erodierten. Rückbesinnungen sind wichtig, Erinnerungen wesentlicher Teil jeder Zustandsanalyse. Natürlich verändern sie sich mit der Zeit, wie es Aleida Assmann, ein Mitglied unserer Jury, in ihrem „kulturellen Gedächtnis“ beschrieb. Aber Erinnerungen helfen zu verstehen, dass Qualität nicht nur das Ergebnis von Glück und Zufall ist. Der Forschungspreis war in seiner Geburtsstunde ein Alarm-Signal aus
Wirtschaft und Wissenschaft gegen die Erosion unseres Bildungssystems, gegen die Missachtung unserer wirklichen Eliten – einzutreten für die Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme in einer durch Informations- und Kommunikationstechnologien längst zusammengewachsenen Welt, getragen von der Überzeugung, dass „eine wesentliche Aufgabe für die freie Welt die naturwissenschaftliche Erforschung der menschlichen Möglichkeiten“ ist (J. Huxley 1953). Es ging um Identifikation und Auszeichnung wichtiger Innovationen, nicht nur in Technik und Naturwissenschaft, sondern auch im Denken.

„Das Bild der Wirklichkeit wird von der Wissenschaft geschaffen, und es sind die besten Fachleute, die dieses Bild schaffen und ihm Echtheitsgarantie verleihen“ (S. Lem 1983). Die Geschichte der Wissenschaft lehrt aber auch, dass jedes Weltbild, das sie schuf, jeweils als endgültig betrachtet wurde, dann aber Korrekturen erfuhr, bis es schließlich zerfiel wie das Muster eines zerschlagenen Mosaiks, und dass nachfolgende Generationen sich dann von neuem daranmachten, es zusammenzufügen. Es sind Innovationen, die an den Knotenpunkten neuer Erkentnisse aufleuchten. Aber was sind wirklich wichtige Innovationen? Nur ein leistungsfähiges Forschungs- und Bildungssystem ist Garant für Innovation und „Wohlstand“; und unser Land ist auf die effiziente Nutzung aller intellektuellen Ressourcen angewiesen, um sich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Die neuen globalen Rahmenbedingungen veränderten die Anforderungen in einer nie zuvor gekannten Schnelligkeit, erschütterten geltende Normen und Denkweisen. Natürlich lassen sich Phantasie, Schöpferkraft und Innovationen nicht auf Knopfdruck befehlen (Eigen 1987), aber sehr wohl stimulieren.

Der Forschungpreis reflektiert nicht nur Erkenntnisfortschritte einzelner Fachgebiete, sondern er versucht sie auch zu gewichten für anstehende Problemlösungen; und er versucht unsere Gesellschaft auf sie aufmerksam zu machen. Die Preisträger der ersten Stunde waren geniale Erfinder und Problemlöser. Sie zeigten, dass wir in Deutschland noch die Köpfe hatten, um bei uns anstehende Probleme zu lösen. Aber sehr schnell wurde auch deutlich, dass zur Bewältigung sich abzeichnender globaler Probleme und zur Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit die in manchen Kreisen gepflegte Trennung von „Anwendungs-“ und „Grundlagenforschung“, von „Geistes-“ und „Naturwissenschaften“ meist nur hinderlich war. Es wuchs die Erkenntnis, dass es darauf ankam, Erfindungen auf ihre zukünftige Bedeutung hin zu prüfen, und dass ohne exzellente Grundlagenforschung die Anwendungsforschung zum Mittelmaß verdammt war. Kontinuierlich musste die „Flughöhe“ des Preises der Komplexität der Probleme angepasst werden. Wer die Forschungs- und Bildungsstandards bestimmen will, der darf nicht in der Regionalliga spielen; er muss zum Netzwerk der besten Köpfe in der Welt gehören.

Heute liefern unsere Preisträger wissenschaftliche Erkenntnisse, die erhebliche Bedeutung nicht nur für den Standort Deutschland besitzen, sondern für die Menschheit. Dabei kann es sich um technologische Entwicklungen, nobelpreisreife wissenschaftliche Durchbrüche oder auch um wohlbegründete „Zurufe“ an die Gesellschaft handeln, wie diese mit den Geiseln der Gegenwart, dem Terrorismus, der Überbevölkerung oder ihrer jeweiligen Geschichte umgehen sollten. Im Mittelpunkt stehen immer herausragende Persönlichkeiten, tüchtige Erfinder, geniale Wissenschaftler, die auch durch Verzicht, akribische Nachtarbeit und hohe intrinsische Motivation diese Leistungen erzielten, die Bildungsstandards und globale Wettbewerbsfähigkeit sichern und verbessern. Zweimal verliehen wir an Theodor Hänsch den Forschungspreis, bevor er den Nobelpreis erhielt. Wir wussten, dass die von ihm vorgelegten Experimentergebnisse Weltspitze oder, wie es Jury-Mitglied Winnewisser ausdrückte, „erste Sahne“ waren. Wir zeichneten aber auch Erfinder aus, deren problemlösende Technik funktionierte, ohne dass sie vielleicht jemals etwas über Quantenphysik oder die Grundgesetze der Thermodynamik in einer Universitätsvorlelesung gehört hatten.

Das alles ist naturgemäß nur möglich, wenn auch die „Suchmaschine“ Jury kontinuierlich sich selbst evaluiert, wenn sie unvoreingenommen ist, wenn wissenschaftspolitisches Engagement verbunden wird mit Unabhängigkeit, Fachkompetenz und Mut. Jeder Kandidat, jede Kandidatin muss sich bewerben. In einem Bewertungsprozess muss jedoch auch geklärt werden, ob es noch bessere Kandidaten gibt, die sich nicht beworben haben, intelligentere und effizientere Problemlösungen. Es muss geklärt werden, wie der jeweilige Entwicklungsstand in anderen Ländern ist. Dazu ist es notwendig Fachgrenzen zu überspringen, selbst Teil eines globalen Informationssystems zu sein, um am Ende zu einem abgesicherten, einstimmigen Votum zu kommen, keinen Mehrheitsentscheidungen, und schon gar keinen Kompromissen. Der Weg von der genialen Erfindung zur Lösung eines Alltagsproblems bis zu unsere Weltsicht verändernden Erkenntnissen der Quantenphysik, der Molekulargenetik, der Nano- und Biotechnologie, der Motor-, Maschinen- und Sicherheitstechnik, der Biodiversitäts- und Umweltanalytik bis in die Kulturund Geisteswissenschaften ist nur gangbar mit einer Jury, die sich zur Grundidee des Preises bekennt, die ihn als Zuruf an die Gesellschaft versteht, sich endlich einem globalen Wettbewerb der besten Problemlösungs-Konzepte zu stellen zum Nutzen unserer Gesellschaft.

Natürlich ist dazu „Urteilskraft“ notwendig, aber auch „Kritik der Urteilskraft“ mit der Kant der deutschen Philosophie zur Weltgeltung verhalf. Die von ihm geschaffene „Grenzlinie“ zwischen Erkenntnisfähigkeit und „Wollen“ ist eine dauerhafte Herausforderung. Die zehn Mitglieder der Jury – fünf ehemalige Forschungspreisträger befinden sich in ihr – wissen, dass ihre Urteilskraft auch diejenigen überzeugen muss, deren Projekte nicht oder noch nicht ausgezeichnet wurden.

Für jeden Wissenschaftler ist das wirklich Wichtige sein eigenes, unmittelbares Forschungsfeld. Hohe intrinsische Motivation, unstillbare Neugier zeichnet sie alle aus. Natürlich kann sich in einem Leben der Interessensschwerpunkt verändern. „Sind schon die Hühner gefüttert?“. Für den eisernen Kanzler aus dem Sachsenwald war das wichtig, bevor er die Augen für immer schloss. Für A. von Humboldt war ohne exakte Kenntnis der Einzelteile eine Analyse des Ganzen unmöglich. „Man schadet der Erweiterung der Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen erheben und dabei die einzelen Tatsachen nicht kennen lernen will“, dozierte er als 45-Jähriger in seiner „Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents“ (1814). Was ist wichtig für den Einzelnen, was für die Menschheit?

Am 4. Oktober 2005 landete ein amerikanischer Weltraumtourist mit einer russischen Sojus-Kapsel auf der internationalen Weltraumstation ISS und erfüllte sich damit einen persönlichen Traum, 48 Jahre nach Sputnik, 36 Jahre nachdem Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat und den Aufbruch der Erdlinge ins All einläutete. Das war nur möglich durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Zur gleichen Zeit verhungerten hunderttausende Menschen, Ergebnis politischer Fehlentscheidungen unserer Weltzivilisation. Der Fortschritt der Wissenschaft wird nicht alle Probleme lösen und auch völlig neue sicherlich schaffen. Aber er wird unsere Sicht der Welt verändern, er wird den Finger wie bisher auf die wirklichen Probleme legen, die die Fortentwicklung aller Menschen verhindern: die ungebremste Bevölkerungsexplosion, desolate Bildungssysteme und barbarische Kriege.

Durch Wissenschaft und Technik lernten wir, dass dieser gewaltige Kosmos unsere Umwelt ist, ungeheuerlich und so unvorstellbar, dass wir Religionen und Götter benötigen um ihn ertragen zu können. Er ist „Schauplatz von Katastrophen, auch von zufälligen, von schöpferischen und zerstörerischen, die aber den Gesetzen der Physik folgen“. Für den Stammvater aller Kantianer bildete dieser Kosmos neben dem moralischen Gesetz in uns das „alles Bestimmende“. Aber mit dem Fortschreiten der Astrophysik, mit der Vertiefung unseres Wissens, manchmal auch nur der Verbesserung unserer Erklärungsversuche für Schwarze Löcher, Neutronensterne oder dem Auftreten organischer Moleküle im Lichtmillionenjahredunkel unvorstellbarer Distanzen, stieg nicht nur unsere Bewunderung, sondern auch der Wunsch, diese uns umgebenden Welten weiter zu erforschen. Diese Neugierde ist die wirkliche Basis menschlicher Kultur, die Grundlage für jede Weiterentwicklung. Wirkliches Wissenschaffen ist auf Erweiterung des Wissens der Menschheit ausgerichtet; und das Rennen um diesen Erkenntnisgewinn ist längst ein internationales Rennen geworden. Die besten Köpfe gehen dorthin, wo ihnen Türe geöffnet werden, wo sie Anerkennung finden, den Rückhalt und den Dialog mit der Gesellschaft. Ein Naturwissenschaftler wird glücklich sein, wenn seine Entdeckung die Tür etwas weiter aufstößt zu dem „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Er wird bescheiden werden, wenn er an die wesentlichen Fragen unserer Existenz stößt.

Da ist zunächst das uns alle faszinierende „Leben“, dessen Strom immer bergauf zu fließen scheint, das so vital und doch zerbrechlich, einmalig und endlich ist, und das dann am „Ende“, wieder in jene atomaren und molekularen Bruchstücke zerfällt, den Gesetzen der Thermodynamik unterliegt, um dem Aufbau neuen Lebens zu dienen. Charles Darwin (1859), Crick und Watson (1953), Arthur und Roger Kornberg (1959; 2006) aber auch Preisträger der Philip Morris Stiftung haben ihr Leben dem „Leben“ gewidmet, von der molekularen Ebene bis zur ökosystemaren Komplexität, von der Grundlagenforschung molekulargenetischer Funktionen bis zur Anwen dung in Biotechnologie, Bionik, Material- und Verhaltens forschung. Sie alle versuchen Geheimnissen unserer Existenz auf die Spur zu kommen, nicht um vordergründiger Rendite wegen, sondern wegen des „Unentdeckten“. „Sie verspotten mich, dass ich in dem Land etwas anderes suche als Zucker.“ Verärgert und enttäuscht beschrieb Maria Sibylla Merian die ignorante Reaktion ihrer Landsleute, als sie ihnen von ihren Schmetterlingsforschungen in Surinam (1681) berichtete. Als Barbara McClintock (1983) den Nobelpreis für die Erforschung „springender Gene“ erhielt, die sie bereits Ende der 40er Jahre entdeckt hatte und von Journalisten nach ihrem Antrieb gefragt wurde, antwortete sie: „Ich tat einfach nur das, was ich gerne tat.“

Uns alle fasziniert der „Kosmos“, dessen Verständnis unsere Weltbilder veränderte. Physiker, Che miker, Astrophysiker und Weltraumtechnologen wurden für ihre grundlegenden Erkenntnisse auf diesen Gebieten mit dem Forschungspreis der Philip Morris Stiftung ausgezeichnet. Staunend bewundern wir neueste Erkenntnisse über die neuronalen, biochemisch-physikalischen Grundlagen unserer Intellektualität, unseres eigenen Bewusstseins, die verständlich machen, warum wir so oft scheitern, wenn wir versuchen, das alte Primatenerbe durch wirklich humane Zustände zu ersetzen.

Wir zeichneten ingenieurwissenschaftliche Glanzleistungen aus, mit denen wir uns immer neue Welten im atomaren oder kosmischen Maßstab erschließen, neue Materialien oder Verkehrssysteme schufen, Kräfte dabei entwickeln, die Leben erhalten aber auch vernichten können. Jeder Technik, vielleicht jeder Erkenntnis, liegt diese Amphibolie zugrunde. Wir können aber deshalb nicht auf sie verzichten.
Wir zeichneten aber nicht nur junge Wissenschaftler aus, die gerade am Anfang einer neuen Entdeckungsreise standen, sondern auch Forscherpersönlichkeiten für ihr Lebenswerk. Sie alle sind gelungene Versuche, das uns umgebende Dunkel weiter zu erhellen. Wir stehen in einer Kette von „Wasserträgern“ und sind zugleich eine Kampfansage an die „terribles simplifi cateurs“, die die Komplexität dieser Welt durch ihre scheinbar plausible „Wahrheiten“ verschütten, manchmal auch politisch missbrauchen wollen.

Kulturschaffen ist immer etwas Kategorisches. Unsere menschliche Kultur baut auf dem Streben nach Erkenntnis auf. Dieses Bedürfnis nach „Suchen“, diese unstillbare Neugierde ist es, was uns wirklich zu Menschen macht, uns weiter bringt. Auszeichnen müssen wir die, die den Schleier lüften und damit allen weiterhelfen. Erfolgreiches und „ausgezeichnetes“ Suchen macht Wissenschaftler zu Preisträgern, aber allein schon das ernsthafte Suchen macht sie zur „Elite“, einer Elite „zu der wir ohne Neid aufschauen können, weil sie durch ihr Beispiel zu einer gebenden Elite wird“ (Michael Großheim 2007).

Wir sind nur Teile in dem evolutiven Rennen nach Erkenntnis; wir haben eine Bringschuld für unsere Gesellschaft, aber die Gesellschaft hat auch eine für die Wissenschaft. Sie muss Dialoge schaffen und pflegen, auch und gerade in ihren „Medienwelten“, wir müssen gemeinsam Brücken bauen. Der Forschungspreis der Philip Morris Stiftung hat sich seit seiner Gründung immer als „Brückenbauer“, als Katalysator in diesem Sinne verstanden.

Wir Wissenschaftler sind glücklich darüber, dass diese Botschaft von der Gesellschaft, der Öffentlichkeit und nachdenklichen Journalisten auch so verstanden wurde. Den Preis-Stiftern haben wir nach 25 Jahren gemeinsamen Kultur-Schaffens dafür zu danken, dass sie nicht nur eine Plattform für diesen Dialog errichtet, sondern dass sie immer die dazu notwendige Entscheidungs-Freiheit garantiert und nachhaltig gefördert haben.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Müller Juryvorsitzender und Anstifter des Forschungspreises der Philip Morris Stiftung