2005

Der Methusalem-Wurm

Eigentlich suchte RALF BAUMEISTER im Genom des berühmten Fadenwurms C.elegans nach Krankheitsauslösern. Ganz nebenbei entdeckte er einen Schlüssel für langes Leben.

Der Star räkelt sich in einer Petrischale. Er ist rund einen Millimeter lang, seine Trilliarden Verwandten leben in hunderten Laboren auf der ganzen Welt. Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans, der von seinen Erforschern liebevoll „C.elegans“ genannt wird, ist das besterforschte Le-bewesen der Erde. Es hat sogar eine eigene Zeitschrift. Im Wissenschaftsmagazin „Worm Breeder’s Gazette“ dreht sich alles um das Leben und auch um das Sterben des kleinen Würmchens.

„Ich habe Kollegen, die träumen sogar nachts von ihm“, sagt Ralf Baumeister, 43, Professor für Bioinformatik und Molekulargenetik an der Universität Freiburg. Seit 1992 studiert Baumeister die Gene des Superwurms, von dem rund eine Milliarde Exemplare in seinem Frei-burger Labor wimmeln. „C.elegans ist ein nahezu perfektes Labortier“, sagt Baumeister, „mehr als 50% seiner Gene sind denen des Menschen ähnlich. Die Lage und Funktion von jeder seiner 959 Körperzellen ist bekannt.“ Das bedeutet: Viele Vorgänge, die im menschlichen Körper ihren genetischen und biochemischen Lauf nehmen, lassen sich am Wurm en miniature nachvollziehen. Einfachheit und Transparenz seines Baus und seiner Funktionen machten C.elegans zum beliebtesten Labortier der Welt.

Ralf Baumeisters Spezialgebiet ist das Erforschen von Krankheiten, die der Wissenschaftler mit seinem Team künstlich durch Fehler im Genom des Wurms auslöst. Dazu manipulieren sie das Erbgut von C.elegans mit UV-Licht oder Chemikalien. So entstehen Mutanten, an denen die Wissenschaftler die Entwicklung von Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder Muskeldystrophie beobachten können. Heilverfahren wie z.B. neue Medikamente lassen sich an den genetisch veränderten Würmern testen. Für diese Arbeit erhielt der Wissenschaftler vor drei Jahren den Philip Morris Forschungspreis.

An Parkinson erkrankte Menschen sterben z.B. Millionen von Nervenzellen ab, die den Botenstoff Dopamin produzieren. C.elegans besitzt von diesen Zellen genau acht, wobei der biochemische Ablauf der Krankheit exakt der gleiche ist. Am Beispiel der Alzheimer-Forschung lässt sich die Arbeitsweise des 21-köpfigen Laborteams besonders deutlich zeigen: „Uns ist es gelungen, den Defekt, der für die Krankheit verantwortlich ist, durch künstliches Abschalten weiterer Gene des Wurms auszugleichen. Der Alzheimer-Wurm war dann wieder völlig normal.“ Auf ähnliche Weise konnte das Team Würmer von Muskeldystrophie heilen. „Das ist wie bei einer Straßenbaustelle. Weiß man, wo das Problem liegt, dann kann man auch eine Umleitung finden“, so Baumeister.

Es spricht aber noch mehr für die Versuche mit C.elegans. Der Wurm vermehrt sich unglaublich schnell. Aus zwei Tieren werden innerhalb einer Woche rund eine Million. Um einen Gendefekt hervorzurufen, brauchen die Forscher also nur vier bis sechs Wochen – bei einer Labormaus dauert der gleiche Eingriff zwei bis drei Jahre. Außerdem sind die Würmer ungewöhnlich robust. Sie lassen sich bei minus 80°C einfrieren und überleben ohne Probleme sogar den Kälteschlaf. Als die NASA ein paar Würmer für Versuche in der Schwerelosigkeit an Bord der Raumfähre Columbia ins All schickte und die Fähre damals kurz vor der Landung im Himmel über Texas explodierte, überlebte C.elegans sogar diese für Menschen schreckliche Katastrophe.

Doch nicht diese Zähigkeit, sondern ein Zufall brachte Baumeisters Team im letzten Jahr mit einem Paukenschlag in die Schlagzeilen der Wissenschafts- und Nachrichtenmagazine, eine Geschichte, ein Science-Fiction-Krimi. „2002 arbeitete unser Team an einer Versuchsreihe über Hitzewahrnehmung und Schmerz“, erzählt Baumeister, „wir richteten einen Laser auf den Wurm und beobach-teten seine Reaktion.“ Wie ein Mensch, der auf eine Herdplatte fasst, zuckte das Tier unter dem Mikroskop zurück. „Wir haben dann versucht, die Nervenreizleitung zu manipulieren und deshalb systematisch einzelne Gene durch Chemikalien ausgeschaltet“, erklärt der Wissenschaftler. Als die Forscher das Gen SGK deaktivierten, empfand C.elegans nicht nur keine Schmerzen mehr, er alterte plötzlich auch langsamer. „Stellen Sie sich das mal vor! Der Wurm hat normalerweise eine Lebenserwartung von 14 Tagen, die manipulierten Exemplare blieben 25 Tage lang lebendig, nach einem weiteren Eingriff wurden einige Exemplare sogar 80 Tage alt.“ Mehr noch: Die Tiere wurden nicht zu Greisen, sie blieben bis ins hohe Alter gesund, fraßen und bewegten sich wie Jungtiere.

Das Ergebnis ließ zahlreiche Wissenschaftsjournalisten weltweit spekulieren: Lässt sich das Gen SGK auch beim Menschen ausschalten? Hatte Baumeister den Schlüssel für ein langes, gesundes, 150-jähriges Leben in Jugend und Frische entdeckt? „Es gibt bereits Experimente an Mäusen, die zeigen, dass Alterung dort durch denselben Mechanismus steuerbar ist“, sagt Baumeister. „Natürlich ist der Mensch sehr viel komplizierter. Vielleicht wird es aber eines Tages möglich sein, das Alterungsprogramm von Hirnzellen zu verlangsamen – und so könnten wir den Verlauf von Alzheimer bremsen.“

Um den Wurm noch intensiver zu erforschen, gründete Baumeister mit seinem Kollegen Karl-Heinz Tovar 1999 eine eigene Firma: EleGene in Martinsried bei München. 45 Biologen und Chemiker forschten mit C.elegans an Medikamenten für die Pharmaindustrie. „EleGene war der Brückenschlag zwischen der Arbeit in den Uni-Laboren und der Wirtschaft.“ Doch leider hatten die Geldgeber kein Vertrauen in das Projekt, mit Würmern Medikamente gegen menschliche Krankheiten zu entdecken. 2002 musste EleGene Insolvenz anmelden. „Das war hart. Denn die Ergebnisse meines Labors zeigen heute, dass EleGene auf dem richtigen Weg war. In einer Firma hätte man das Ergebnis unserer Uni-Forschung im großen Stil umsetzen können.“ Ein Rückschlag? Baumeister lacht kurz auf: „Im ersten Moment natürlich. Aber wissen Sie, kein EleGene-Mitarbeiter brauchte länger als vier Wochen, um eine neue Anstellung zu finden. Das macht deutlich, auf was für einem spannenden und zukunftsweisenden Feld wir arbeiten. Jetzt setzen wir unsere Pläne eben hier an der Universität Freiburg um.“

Prof. Dr. Ralf Baumeister und Dr. Karl-Heinz Tovar wurden 2001 für ihre bahnbrechende Forschungsarbeit an dem Wurm Caenorhabditis elegans (C.elegans) ausgezeichnet.